Der neueste Roman von Norbert Scheuer, Winterbienen, der 2019 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ist das Tagebuch des Imkers Egidius Arimond, der mit seinen Bienen in der Landschaft um Urftland lebt. Das vermeintlich ruhige Leben des Imkers, der an Epilepsie leidet und Juden bei der Flucht nach Belgien hilft, droht im Laufe des Romans immer mehr außer Kontrolle zu geraten.
Seine Tagebucheinträge umfassen einen Zeitraum von Januar 1944 bis Mai 1945 und reflektieren somit die Ereignisse der letzten Phase des zweiten Weltkrieges. Wir erfahren, dass der Protagonist der Nachkomme eines Bienen züchtenden Benediktinermönches ist, der im 15./16. Jahrhundert lebte, und dessen fragmentarische Schriften Egidius aus dem Lateinischen übersetzt und in seinem Tagebuch wiedergibt. Auch seine Bienen gehen auf die Völker dieses Vorfahrens, Ambrosius Arimond, zurück. Egidius lebt ein bescheidenes und anfangs ruhiges Leben in der Eifel. Dieses Gefühl wird zumindest zu Beginn des Romans vermittelt. Doch das Leben des unfreiwilligen Imkers ist kompliziert, und seine Lage spitzt sich immer mehr zu.
Egidius, einstiger Lateinlehrer, hat sich der geliebten Bienen seiner Kindheit aus familiären Gründen angenommen und träumt davon seinen eigentlichen Beruf wieder aufnehmen zu können. Er lebt in relativer Zurückgezogenheit mit seinem Hund und den Bienen, geht aber eine Reihe von Liebschaften mit verheirateten Frauen ein. In der Ortschaft erfreut er sich nicht einer großen Beliebtheit, weil er wegen seiner Epilepsie vom Wehrdienst befreit wurde. Sein Bruder ist ein Flieger und genießt hohes Ansehen bei den Nazis. Egidius hingegen verhilft Juden zur Flucht, indem er Anweisungen folgt, die in Büchern hinterlegt werden. Das Geld, das er dringend für die Medikamente gegen die Epilepsie braucht, verdient er durch eben diese Hilfe zur Flucht.
Die Kommunikation zur Organisation der Flucht, die immer schwieriger und gefährlicher wird, geschieht in der Bibliothek, wo Egidius seinen Studien über Bienen und Ambrosius nachgeht. In dieser Bibliothek scheint sich Egidius in die neue Bibliothekarin, die Ehefrau eines NSDAP Kreisleiters, zu verlieben.
Winterbienen ist ein ruhig erzählter Roman, eingeteilt in kleinen meist eine oder höchstens zwei Seiten umfassenden Einträgen, der mit schöner Sprache höchste Spannung aufbaut, die nicht aus einer komplexen Handlung entsteht, sondern aus der klug durchdachten Erzählweise und der Weiterentwicklung des Innenlebens des Imkers Egidius und der Geschehnisse um ihn herum. So zum Beispiel in dem letzten Kapitel, in dem der Wechsel in der Erzählperspektive eine kaum auszuhaltende Spannung erzeugt.
Einige Geschichten und Hintergründe bleiben im Roman unaufgelöst. Es geht dem Erzähler aber nicht um Handlung und deren Stränge, sondern um Betrachtung und Sprache. In Zeiten des Krieges bleibt vieles notwendigerweise unklar und trümmerhaft.
Im hintersten Winkel des großen Bunkers in der Bahnhofstraße hängt der ganze Ort gleichsam wie eine zitternde Menschentraube zusammen; die Feuchtigkeit des Stollens scheint mit unserer Angst von der Decke zu tropfen.
Winterbienen, S. 252
Durch den ganzen Roman hindurch treten zwei fliegende Objekte vermehrt auf: Bienen und Flugzeuge. Die Bienen sind zierlich, klein aber fleißig. Sie sind schön, selbst wenn sie tot in einem Lockenwickler liegen. Ihr Leben besteht aus Opfer, Wiederholung und Fleiß mit dem Ziel zu überleben und Honig zu produzieren. Die Flugmaschinen der Menschen dagegen sind die Bringer des Unheils. Sie sind laut, ihre Geräusche die Vorboten der Gefahr und Chaos, das sie immer mehr um sich herum ausbreiten. Die Bienen bieten ein Gegengewicht gegen die Schrecken und Chaos des Krieges.
Die Blicke sind in Winterbienen nach oben, gegen den Himmel und darüber hinaus gerichtet. Als kleine Kinder träumen Egidius und sein Bruder von Raumfahrt, wenn sie tief unter der Erde sitzen, der einzige Platz, der im Roman Verborgenheit bietet. Egidius folgt häufig dem Flug seiner Bienen, oder hört auf den Himmel um die immer häufiger werdenden feindlichen Flugzeuge zu erkennen. Doch der Himmel ist kein Ort der Ruhe und Geborgenheit. Die Bomberverbände werden im Laufe des Romans immer sichtbarer, der Himmel immer unheimlicher. Der Blick, der einst im Himmel Sterne und Raumfahrt suchte, findet dort nur noch Bomben, Unheil und Chaos.
Winterbienen ist sehr reich, ist leicht und schnell zu lesen, und auf wunderbare Weise vielschichtig. Ich habe Vieles hier ausgeklammert, um den Lesern nicht allzu viel vorwegzunehmen. Die Lektüre kann ich sehr empfehlen.
Ich danke dem Verlag C.H. Beck für die großzügige Bereitstellung des Leseexemplars.