Das „Kopfkissenbuch“ der Hofdame Sei Shōnagon (geb. 966) ist ein Meisterwerk der japanischen Betrachtungs- und Essayliteratur. Obwohl nicht eindeutig datierbar, werden aufgrund der im Text erwähnten Ereignisse und Persönlichkeiten die Jahre 996 bis 1009 für die Entstehungszeit des Werkes angesetzt (siehe Nachwort, S. 632). Vermutlich begann Sei Shōnagon mit der Niederschrift um das Jahr 996, nachdem sie von der Kaiserin 20 Bögen Papier geschenkt bekommen hatte, eine Tatsache, die sie in Betrachtung 259 erwähnt.
Im „Kopfkissenbuch“, eine Sammlung von 325 Betrachtungen oder kleineren Essays, folgt Sei Shōnagon keiner gängigen Form der fiktiven Erzählliteratur, sondern der Gattung zuihitsu, als deren japanische Begründerin sie gilt. Kenkōs „Tsurezuregusa“ aus dem 14. Jahrhundert, hierzulande meist bekannt unter dem Titel „Betrachtungen aus der Stille“, ist ein weiteres Beispiel dieser Gattung. Der Inhalt des Buches lässt sich nur schwer zusammenfassen, folgt doch Sei Shōnagon keinem Erzählstrang. Die nummerierten Betrachtungen von unterschiedlicher Länge stehen meist für sich, und einen roten Faden, der sie miteinander verbindet, wird der Leser vergeblich suchen.
Das „Kopfkissenbuch“ ist nicht nur eine wichtige Quelle für Historiker, die sich mit dem japanischen Kaiserpalast beschäftigen, sondern eine auch heute noch sehr lesenswerte Lektüre. Die Essays bieten Betrachtungen über das tägliche Leben, Politik, Natur, Poetik, Ästhetik und viel mehr. In ihren scharfsinnigen Reflexionen bietet Sei Shōnagon Momente der Überraschung, Stille, Intimität und Sinnlichkeit.
Die Betrachtungen lesen sich wie Einträge aus dem Tagebuch einer Entdeckerin, nicht auf einer Expedition in die weite Fremde, sondern hier und jetzt auf der Suche nach der Schönheit, ja Ästhetik des Alltags. Von Betrachtungen zu bestimmten Tageszeiten, zum Beispiel der Morgendämmerung im Frühling, über den Duft des Brennholzes oder des Räuchergefäßes, bis zu Beschreibungen religiöser Feste, es ist der Zauber des Alltages, der in diesen Einträgen gefeiert wird. Dazu äußert sich auch die Kaiserin, als Sei Shōnagon über die Macht des Schreibens sinniert:
Im Gespräch mit anderen Hofdamen vor der Kaiserin oder als Antwort auf ein Wort von ihr sagte ich einmal: «Wenn mir das Dasein so zuwider ist, dass ich vor Abscheu keinen Moment länger leben, sondern einfach spurlos verschwinden möchte, brauche ich bloß gewöhnliches, schön gebleichtes und sauberes Schreibpapier und einen ordentlichen Pinsel in die Hand zu bekommen, meinetwegen auch weiß gefärbtes oder Michinoku-Papier, um vollkommen getröstet zu sein. Dann sage ich mir, nun gut, so werde ich das Leben noch eine Weile ertragen können. Und wenn ich mir dann noch ein blaues, sauber gearbeitetes, dickes Sitzkissen hinlege, dessen schwarzes oder weißes Stickmuster auf dem Rand mit dem Blau deutlich kontrastiert, schöpfe ich neue Zuversicht, dass auch künftig das Leben durchaus lebenswert und ein Verzicht darauf bedauerlich wäre.»
Betrachtung 259
«Du findest ja in ziemlich alltäglichen Dingen Trost!», lachte die Kaiserin.
Das „Kopfkissenbuch“ ist kein Buch, das man in einem Rutsch lesen sollte. Verteilt auf etwas weniger als ein Jahr, eignen sich die 325 Betrachtungen sehr gut als tägliche Lektüre, zu denen man immer wieder zurückkehren kann. So ist es mir mit Kenkōs „Tsurezuregusa“ ergangen, und so lese ich auch das „Kopfkissenbuch“ der Hofdame Sei Shōnagon.
Diese 2019 von Manesse Verlag veröffentlichte Ausgabe ist die erste vollständige deutsche Übersetzung des Werkes und ersetzt eine ältere Ausgabe, die auch in Manesse Bibliothek erschienen und bis vor kurzem noch erhältlich war. Das ausführliche Nachwort und 816 Anmerkungen erleichtern den Zugang zum Buch, auch für ein Publikum, das mit der klassischen japanischen Literatur nicht vertraut ist.
Ich danke Manesse Verlag ganz herzlich für das Leseexemplar, das ich bekommen habe.