Das Wasser am Hals: Zwanzig Sätze über die Trägheit, eine Erzählung von Paul Bartsch, sticht nicht durch Geschichte und Handlung hervor, sondern durch Erzählstil und Aufbau. In dieser Hinsicht erinnert mich die Erzählung an die Romane, die man in der Schulzeit liest, um mit der Kunst der „großen“ Autoren vertraut zu werden.
Die Handlung, falls es eine im klassischen Sinne gibt, ist denkbar einfach und schnell zusammengefasst. Karl-Georg Ammer, ehemaliger Akademiker, ist ein Verlagslektor, der ein Gutachten zu einem unaufgefordert eingegangenen Manuskript schreiben soll. Er ist allein zu Hause, während seine Frau und ihre zwei Kinder bei den Schwiegereltern zu Besuch sind. Die Geschichte entsteht erst aus der Verknüpfung der verschiedenen Erzählbenen und Geschehnisse um Karl herum. Die wesentlichen Momente sind diese:
- Karl entdeckt die Psychologie Lektüre seiner Frau, und ihre Unterstreichungen in einem dieser Bücher verunsichern ihn (Kap. 6).
- Wir erfahren von einem beunruhigenden, uns aber inhaltlich unbekannten Gespräch zwischen Karls Frau und ihrer Mutter (Kap 7).
- Zusammen mit dem Erzähler lesen wir ohne Karls Wissen in dem eingegangenen Manuskript (ab Kap 8).
- Und dann gibt es noch das steigende Wasser um Karl herum, vielleicht das Wasser am Hals, das zum ersten Mal auf S. 54 erwähnt wird.
Der Erzähler spielt eine wichtige Rolle, indem er nicht reserviert und neutral erzählt, sondern bewusst als eine Person mit teilweise limitiertem Zugriff auf Informationen auftritt. Zusammen mit ihm schnüffeln die Leser in Karls Leben herum. Wenn Karl in die Küche geht, dann sieht der Erzähler eine Gelegenheit, in Karls Manuskript zu lesen. Der Erzähler ist geistreich, geduldig aber auch hin und wieder ratlos. Er weiß viel, würde aber wenig zu erzählen habe, gäbe es da nicht die Momente dieser gestohlenen Einblicke in das Leben des Protagonisten.
Wenn Karl Tee kocht, dann heißt es: “Und da der [Tee] nun auch noch seine Zeit ziehen muss, strapaziert Karl allmählich nicht nur die Geduld des Lesers, sondern auch die unsrige gehörig! Aber halten wir doch derweil unser Ohr ein wenig in den Wind – er allein weiß ja die Antwort, wie es im Liede heißt …” (S. 27). Und so erfahren wir von dem steigenden Wasser. Der Erzähler gibt auch poetische Betrachtungen von sich. Wir erfahren, warum bestimmte Passagen aus der Lektüre von Karls Frau nicht reproduziert werden (S. 51), oder er gibt zu, dass er nicht weiß, wo er in seinem Bericht wieder einsetzen soll (S. 57). Die Lösung: “Nun, wir befragen nicht die Sterne und werfen keine Münze. Wir blättern ein wenig weiter im Manuskript” (S. 57).
Im Zentrum des ganzen Geschehens steht, das dürfen wir nicht vergessen, die Trägheit.
Diejenigen, die eine komplexe Handlung beladen mit Ereignissen (lies action), vielen Aha-Momenten und Verwickelungen erwarten, werden vielleicht enttäuscht sein. Wer aber Neugierde und ein wenig Geduld mitbringt, liest eine sehr spannende Geschichte, die sich in aller Ruhe auf 159 Seiten entfaltet.
Ich danke dem mitteldeutschen verlag für das Leseexemplar.