Der Erzählstrang, falls es in diesem Buch eine Geschichte gibt, ist erdenklich einfach: die bekannte, französische Konzeptkünstlerin Sophie Calle findet ein Adressbuch auf der Straße. Doch bevor sie das Buch dem rechtmäßigen Besitzer zurückgibt, kopiert sie alle Kontakte aus dem Adressbuch und begibt sich auf eine Entdeckungsreise, indem sie im Freundeskreis dieses Unbekannten (Pierre D.) Interviews hält. Die 28 Interviews erscheinen im Jahre 1983 als Serie in der französischen Tageszeitung Libération, allerdings ohne Wissen und Erlaubnis des Recherchierten.
Das Adressbuch, in November 2019 in Bibliothek Suhrkamp erschienen, stellt die 28 Stücke zum ersten Mal auf Deutsch zusammen. Mit 105 Seiten ist das Buch leicht und schnell durchzulesen, und im Ganzen sehr unspektakulär. Der Sprachstil ist sehr einfach, die Autorin legt scheinbar keinen Wert auf literarische Qualität und geht in ihren Recherchen nicht systematisch vor. Ganz im Gegenteil, sie erweckt eher den Eindruck von Stalking. Sie befragt Pierres Freunde über sein Liebesleben, erzählt ihnen Dinge, die sie über ihn herausgefunden hat, wühlt unerlaubt im Briefkasten seines Vaters, um zu sehen, wie viel Post dort liegt, legt dem Leser Pierres Schwächen und Stärken offen, schleicht um seine Wohnung herum, und veröffentlicht ihre Recherche ohne seine Erlaubnis.
In einem Artikel in NDR heißt es:
Heute, wo es im Netz kaum noch Grenzen der Selbst- und Fremddarstellung gibt, wirkt das, was Sophie Calle schildert, fast harmlos, und doch ist sie eingedrungen in ein Leben.
NDR | Beichten einer ungewöhnlichen Stalkerin
Ich kann dieser Aussage nicht folgen, denn nichts wirkt hier harmlos. Pierre gab kein Einverständnis zur Recherche. Er hat sein Adressbuch nicht geteilt, wie wir es heute digital machen könnten. Er wusste nichts von dem Projekt der Autorin, und hat protestiert, als er davon erfahren hat.
Man kann an dieser Stelle viel zur Konzeptkunst und der Definition der Kunst schreiben. Wir können aber auch fragen, ob jede wissenschaftliche Recherche automatisch Kunst ist? Zynisch gefragt: Sollen Wissenschaftler ihre Interviews und die Identität der Befragten ohne ihre Erlaubnis veröffentlichen und somit an der Kunst teilhaben? Sind Apple, Google, Facebook und Cambridge Analytica Künstlerkollektive, indem sie Sophie Calle nachahmen? Pierre D. nahm zu der Aktion von Calle Stellung, die auch in Libération veröffentlicht wurde. Wieso setzt sich die Autorin mit der Antwort von Pierre D. nicht auseinander? Aus meiner Sicht, haben wir es hier mit einer privilegierten, weißen Künstlerin zu tun, die auch im Nachhinein die Problematik ihrer „Kunst“ nicht zu verstehen scheint. Der Abschnitt „Der letzte Tag“ und das Nachwort sind schockierend kalt und dreißig Jahre nach der Erstpublikation immer noch frei von jeder Einsicht. Ich erkenne hier auch wenig Drang zur Provokation oder Nachdenken seitens der Autorin. Im Grunde wird die Arbeit auf den Leser des Buches verlagert, denn die Lektüre provoziert mit Sicherheit.
Ich danke dem Suhrkamp Verlag für die großzügige Bereitstellung des Leseexemplars.